Gezieltes Marketing als BalanceaktDer Grat zwischen „personalisiert“ und „übergriffig“ ist schmal
13. Oktober 2021Unternehmen müssen verbindliche interaktive Erlebnisse schaffen, die ihre potenziellen Käufer wirklich ansprechen. Personalisierung ist dabei oft unerlässlich. Doch Vorsicht: Der Schritt von der Personalisierung zum Übergriff ist klein – zu klein für Algorithmen. Deshalb braucht es neben intelligenter Software Menschen mit Feingefühl und Verstand.
Es mag nett sein, wenn sich ein Restaurantbesitzer an den Lieblingscocktail erinnert und diesen als kleine Aufmerksamkeit pünktlich zum Geburtstag aufs Haus serviert. Doch die Grenze ist überschritten, wenn er plötzlich auch Geburtsjahr, Geburtsort und die Namen der Eltern kennt. Dies ist die zentrale Herausforderung, der Marketing-Spezialisten heute gegenüberstehen: Sie müssen ein sehr klares Verständnis der impliziten Bedürfnisse und Wünsche von Kunden und Interessenten entwickeln – doch nicht so umfassend, dass die Personalisierung übergriffig wirkt.
Es gilt, den richtigen Mittelweg zu finden, denn auch das andere Extrem, eine Marketingansprache nach dem Gießkannenprinzip, ist wenig zielführend: Eine breit gestreute, generische Kundenansprache basiert auf der Hoffnung, dass zumindest einer der Versuche sein Ziel treffen wird. Unternehmen, die auf diese Weise Marketing betreiben, werden schnell – und nicht ganz zu Unrecht – als zeitraubende Spammer eingestuft. Personalisierung ist daher zu einem gewissen Grad unerlässlich.
Übermäßig gezieltes Marketing hingegen kann vom Käufer schnell als aufdringlich und übergriffig empfunden werden. Kunden auf ein Sonderangebot aufmerksam zu machen, wenn diese das Geschäft betreten, ist vollkommen in Ordnung – eine Pop-Up-Anzeige bezogen auf einen Kauf, den ein Kunde erst vor wenigen Minuten getätigt hat, hingegen zu früh, zu aufdringlich. Auch die fehlende Möglichkeit für ein Opt-Out ist ein No-Go, ebenso wie Maßnahmen, die Kunden zu lange und zu häufig ins Visier nehmen. Schließlich können auch False Positives in der Praxis ein Problem sein: Kauft ein männlicher Kunde ein Damenparfüm, wird dies in vielen Fällen eher ein Geschenk sein und damit kaum Relevanz für weiteres gezieltes Marketing besitzen.
Wohl und Wehe der Personalisierung
Natürlich möchte jedes Unternehmen den Spagat der richtigen Personalisierung erfolgreich meistern. Und laut einem führenden Analystenhaus haben auch neun von zehn Unternehmen bereits Personalisierungsstrategien im Einsatz. Der Erfolg entsprechender Maßnahmen steht jedoch auf einem anderen Blatt. Zwar legen die Daten in deutlicher Mehrheit nahe, dass eine erfolgreiche Umsetzung zu mehr Loyalität und guten Gelegenheiten für ein verkaufskanalübergreifendes Upselling führt. Eine gescheiterte Umsetzung jedoch treibt Kunden in die Arme der Konkurrenz.
So fand etwa Instapage heraus, dass 74 Prozent der Kunden frustriert reagieren, wenn Webseiteninhalte nicht personalisiert sind. Dabei könnte jedoch auch ein demographischer Faktor eine Rolle spielen: SmarterHQ ermittelte, dass 70 Prozent der Millennials Frust empfinden, wenn sie irrelevante E-Mails erhalten.
Experten für Personalisierung scheint es in Marketingabteilungen zuhauf zu geben und die Thematik ist Dauerbrenner in Besprechungen, gerne kombiniert mit Diskussionen über Customer Experience. Die traurige Wahrheit ist jedoch, dass die Disziplin noch am Anfang steht. 2019 fand McKinsey heraus, dass nur 15 Prozent der CMOs glauben, dass ihr Unternehmen den richtigen Weg zum Aufbau einer erfolgreichen Personalisierungsstrategie eingeschlagen hat.
Dennoch lohnt es sich, das große Ziel konsequent weiterzuverfolgen, denn der Nutzen – wenn er erst einmal eintritt – ist enorm. Laut McKinsey kann Personalisierung die Akquirierungskosten eines Kunden halbieren, Einnahmen um bis zu 15 Prozent steigern und die Effizienz der investierten Marketingmittel um bis zu 30 Prozent erhöhen. Die Zahlen stammen aus einer Recherche von 2016. Mit Sicherheit liegen sie heute bereits deutlich darüber.
Der Schlüssel zu einer gesunden Balance: Relevanz
Erfolg oder Misserfolg von Personalisierung ist oft eine Frage von Sekunden. Dann ist bereits die Entscheidung gefallen, ob sich eine Person für ein Marketingangebot interessiert oder nicht. Ein Tippfehler im Namen oder offensichtlich irrelevanter Inhalt, und das Angebot landet im Handumdrehen im Papierkorb.
Relevanz ist von äußerster Wichtigkeit. Doch allein durch Software-Tools lässt sich diese nicht immer zuverlässig sicherstellen. Zwar sind Marketing-Stacks meist im Überfluss verfügbar und Unternehmen ächzen geradezu unter der Last von ungenutzter Software. Doch wirklich relevante Inhalte müssen angepasst werden – und das bedeutet, Menschen müssen sich dazu Gedanken machen – und sie müssen smart sein.
Zu erwarten, dass am Ende gleich die perfekte personalisierte Kundenansprache steht, die sich idealerweise auch noch beliebig skalieren lässt, wäre zu viel erwartet und würde vorhandene Kapazitäten unverhältnismäßig überlasten. Im ersten Schritt jedoch die Kernaspekte der Demographie zu verstehen hilft bereits viel. Zwar sind alle Kunden und Interessenten Individuen, doch sie haben auch viel gemeinsam: Alter, Geschlecht, Familienstand – all das prägt einen Menschen, ob er will oder nicht. Kombiniert mit den Informationen, die Konsumenten wie eine Brotkrumenspur hinter sich herziehen (Futter für Analysen, die Website-Besuche, Einkäufe oder Historien für genutzte Dienste abdecken), können Unternehmen ein Bild ihrer Kunden erhalten und auf dieser Basis personalisierte Benachrichtigungen, Angebote, Updates zur Warenverfügbarkeit oder Sendungsverfolgungen bereitstellen. Diese Dinge schätzen Konsumenten wert, ohne dass der Eindruck entsteht, der Verkäufer habe eine rote Linie überschritten.
Personalisierung mit Verstand
Wenn Unternehmen Angebote liefern, die sich auf bekannte Interessensgebiete eines Individuums beziehen, ist das für den Käufer eine Hilfe. Der spanische Modehändler Desigual etwa erreicht dies, indem er Kleidungsstücke empfiehlt, die auf der Kundenhistorie und den angegebenen Präferenzen des Konsumenten basieren. All dies wird in einem zentralen System gespeichert, zusammen mit Daten zu Lagerbeständen und anderen relevanten Informationen.
Ähnliches Beispiel: Für einen Stammkunden eines Hemdenfabrikanten könnte ein Angebot „Drei zum Preis von zwei“ mehrere Jahre nach dem letzten Kauf durchaus ansprechend sein. Oder ein Kunde, der regelmäßig sperrige Produkte wie Windeln oder Druckerpapier im Laden kauft, könnte sich über ein Angebot zur kostenfreien Lieferung freuen. In einem solchen Fall bringt der Verkäufer den Käufer dazu, den Vertriebskanal zu wechseln – die Kundenbeziehung wird intensiviert, während der Kunde gleichzeitig vom neuen Komfort profitiert.
Trigger à la „Kaufen Sie als nächstes“ sind ebenfalls hocheffektiv, wenn sie wirklich relevant sind und mit der Zeit weiter verbessert werden, um eine verlässliche Effizienz zu erreichen. Oft erfordern jedoch auch sie einen menschlichen Feinschliff anstelle der reinen Nutzung eines simplen Keyword-Finders in einem Algorithmus. Wenn ein Kunde ein Hemd kauft, kann es gut sein, dass er auch Manschettenknöpfe oder eine Krawatte benötigt. Aber gleich einen ganzen Anzug oder ein beliebiges anderes Kleidungsstück unter dem Tag „Bekleidung“? Eher weniger.
Ebenso gilt: Ein gut geschriebener Social-Media-Beitrag, der zur Lesehistorie eines Individuums passt, könnte dessen Aufmerksamkeit besser auf sich ziehen als eine generische E-Mail. Auch im 21. Jahrhundert – ungeachtet dessen, was Tech-Investor Marc Andreessen prophezeite – hat Software eben noch nicht die ganze Welt verschlungen.
Transparenz schafft Vertrauen
Ein weiterer Schlüssel ist eine offene Kommunikation. Auch wenn ein Großteil der Kunden die genauen algorithmischen und probabilistischen Details der Mechanismen, die im Hintergrund einer personalisierten Maßnahme ablaufen, nicht versteht – oder verstehen muss: Transparenz über die Quellen des generierten Wissens ist ein guter Start, um Vertrauen aufzubauen.
Keine Frage, Unternehmen müssen Wege finden, ihre Zielgruppen zu begeistern. Dazu könnte beispielsweise beim Kauf von Sportausrüstung eine Augmented-Reality-Umgebung helfen, diese vorab auszuprobieren. Ein Gesundheitsanbieter oder eine Krankenversicherung wiederum könnten kostenlose Wearables zur Verfügung stellen, um Puls, Herzfrequenz oder Blutdruck zu messen. All dies sind attraktive Angebote. Doch bevor Kunden hierzu ihre persönlichen Daten zur Verfügung stellen, wollen sie wissen, wie diese genutzt werden.
2019 entdeckte eine Befragung des Fachmagazins MIT Sloan Management Review große Schwankungen bezüglich der Sensibilität von Personen bei der Nutzung persönlicher Daten. Die Über-65-Jährigen und Zielgruppen mit hohem Bildungsniveau zeigten eine deutlich höhere Skepsis als die Unter-24-Jährigen und Zielgruppen mit geringerem Bildungsniveau. Als Konsequenz legt das Magazin den Unternehmen nahe, ihre spezifischen Zielgruppen zu verstehen und diese über die Zusammenhänge zwischen der Sammlung ihrer Daten und personalisierten Angeboten aufzuklären.
Software-Lösungen und menschliches Feingefühl
In der heutigen Zeit können sich Unternehmen nicht länger durch kleingedruckte Geschäftsbedingungen und Abbinder, die ihr Verhalten entschuldigen, aus der Verantwortung stehlen. Entsprechend dürfen die erläuterten Schritte keine einmalige Sache sein. Vielmehr erfordert ein kontinuierlich relevantes und transparentes personalisiertes Marketing einen Plattform-Ansatz, der es ermöglicht, Daten über Geschäftsbereiche hinweg und ohne Silos auszutauschen. Diese müssen akkurat, relevant und verfügbar sein, sodass je nach Einsatzszenario sowohl Daten im Ruhezustand als auch Echtzeitdaten miteinander kombiniert werden können. Auch die dafür erforderlichen Entwicklungsfunktionen müssen schnell und responsiv sein.
Doch die Nutzung einer modernen Software-Lösung ist nur die halbe Miete. Gleichzeitig gilt es, Kunden systematisch auf eine Weise anzusprechen, die verbindlich, empathisch und geschmackvoll ist. Nur so bleibt der personalisierte Kontakt beim Kunden in guter Erinnerung und wird letztendlich von Erfolg gekrönt – zum Gewinn für beide Seiten, wie der Lieblingscocktail zum Geburtstag.
Erich Gerber ist Senior Vice President für die Regionen EMEA & APJ bei TIBCO Software.