Die Chance aus der Corona-Krise:Re-Start auf dem Weg eine agile Organisation

4. November 2020

Eine Rückkehr zur alten Normalität florierender Märkte oder zu bisherigen Performance-Kurven scheint mit Corona kaum möglich. CEOs und ihr Top-Management stehen vor der Aufgabe, wie sie ihre Organisationen in einen reibungslosen operativen Betrieb mit der Pandemie führen. Dabei gilt es, die wesentlichen Erfolgsfaktoren auf dem Weg zur agilen und wandlungsfähigen Organisation nicht aus dem Blick zu verlieren.

In der Zwischenzeit sind Produktionen wieder angelaufen, Menschen kehren teils nur zögerlich an ihre Arbeitsplätze oder aus der Kurzarbeit zurück – immer für den nächsten kompletten Lockdown gewappnet. In einigen Berufssparten und Branchen werden flexiblere Arbeitsplatz- und Zeitmodelle mit Homeoffice und mobilem Arbeiten erhalten bleiben.

Allein deshalb reorganisieren sich zurzeit viele Unternehmen. Mit ein paar Retuschen am Organigramm wird es allerdings auch diesmal nicht getan sein. Vielmehr bietet sich jetzt die Chance, Strategien und operative Strukturen, Unternehmenskultur sowie vor allem Führungskräfte und Mitarbeiter flexibler zu organisieren als bisher.

Organisationsdesign: alle operativen Systeme radikal am Kunden ausrichten

Die Hoffnungen, durch ein paar Arbeitsgruppen und organisationale Anpassungen bei den Arbeitsrichtlinien eine robuste, agile Organisation einzurichten, ist naiv. Agile Arbeitsmethoden wie Scrum oder Kanban lassen sich zwar verordnen, funktionieren aber nicht per Arbeitsanweisung. Vielmehr funktionieren sie erst als das Ergebnis eines ganzheitlichen Prozesses, an dessen Ende ein anderes Organisationsdesign auch zu individuellen Verhaltensänderungen führt.

Dieser Prozess muss auf den Ebenen Strategie und Struktur, Kultur und Mindset von Management und Mitarbeitern ansetzen. Ausgangspunkt sollten folgende Fragen sein:

  • Welche Organisationsform(en) helfen uns dabei, unserer strategischen Ziele zu erreichen?
  • Wie richten wir unsere Organisation so aus, dass wir schnell mit neuen Kundenerwartungen umgehen und diese schnellst- und bestmöglich erfüllen?
  • Wie gestalten wir unsere Prozesse, damit wir möglichst effizient produzieren können?
  • Wie wünschen wir uns dabei Zusammenarbeit?
  • Auf welchen Ebenen und wer soll Entscheidungen in Zukunft treffen, damit die vorhandenen Kompetenzen bestmöglich zur Entfaltung kommen?
  • Welche Rollen übernehmen Führung für unser System und wer übernimmt dafür auch Verantwortung?

Die Beantwortung dieser Fragen führt zu einem Organisationsdesign, das alle operativen Systeme radikal am Kunden ausrichtet. Damit diese effizient arbeiten können, bestehen klare Regeln für die Zusammenarbeit mit koordinierenden und unterstützenden Systemen.

Dem Management obliegt nicht mehr, Aufgaben zu verteilen, sondern Ressourcen bereitzustellen und Kompetenzen zu bündeln sowie Verantwortung dahin zu verlagern, wo die größte Expertise liegt. Ein Modell, mit dem diese Strukturen geschaffen werden können, ist allerdings viel älter als die heutigen agilen Methoden wie SCRUM oder Kanban.

Bereits 1959 erschien das Buch „Cybernetics and Management“ des britischen Betriebswirt Stafford Beer, in dem er die Grundzüge seines Viable System Model (VSM) entwickelte. Inspiriert von der Biokybernetik, die die Steuerungs- und Regelungsvorgänge in Organismen und Ökosystemen beschreibt, leitete er Kernelemente für seine Managementlehre ab.

Mit VSM betrachtete er Organisationen aus rein funktionaler Perspektive. Geleitet war er von der Frage, welche Funktionen in einem System vorhanden sein müssen und wie diese miteinander zusammenspielen, damit ein System gesund und effektiv seinen Zweck erfüllen kann.

Fünf Teilsysteme in einer lebenden Organisation

Für das Management eines Unternehmens identifizierte er fünf Teilsysteme, die lebendige Organisation ermöglichen: Das operative System (S1) beinhaltet alle wertschöpfenden Prozesse, die eine klare Ende-zu-Ende-Verantwortung brauchen. Produktentwicklung und Vertrieb beispielsweise richten ihre gesamte Energie auf die Befriedigung der Kundenbedürfnisse aus und brauchen dafür ein hohes Maß an Autonomie.

Da S1-Funktionen sich in zum Teil überschneidenden Marktsegmenten bewegen und sie meist auch auf gemeinsame Ressourcen zurückgreifen, benötigen sie koordinierende und unterstützende Systeme (S2). Dafür geben S1-Systeme Teile ihrer Autonomie an S2-Systeme ab, zum Wohle der Gesamtorganisation. In eher klassisch organisierten Unternehmen übernehmen in der Regel Marketing, IT, Einkauf, HR wichtige S2-Aufgaben. Auch sie brauchen einen klaren Kundenfokus, um S1 genau den Support zu geben, den sie für den effektiven, schnellen Dienst am Kunden benötigen.

Auf der dritten Systemebene sorgen Operative Management-Systeme (S3) mit schnellen Entscheidungen dafür, dass die benötigten Ressourcen für S1 und S2 bereitstehen. Bei Konflikten moderieren sie und stellen die Zusammenarbeit von S1 und S2 sicher. S3 hat also auch Audit-Funktionen und bezieht unmittelbar relevante Informationen aus erster Hand aus den Teilsystemen, in denen die Wertschöpfung stattfindet.

Mit ihren Informationen treffen sie Entscheidungen oder bereiten diese für die Strategischen Management-Funktionen (S4) vor. Diese haben die Zukunft im Blick. Sie richten ihre Sensoren nach außen, spüren Trends auf und sorgen dafür, dass ausreichend Ressourcen zur Verfügung stehen, damit die Organisation rechtzeitig auf geänderte Markt- und Kundenanforderungen vorbereitet ist.

Die oberste Systemebene übernimmt die höchsten Steuerungsfunktionen (S5). Sie definieren normative Regeln wie Unternehmenszweck, formulieren Ziele häufig in Übereinstimmung mit Stakeholdern wie Investoren, entwickeln strategische Vorgaben und stecken damit die Leitplanken ab, in denen S1 bis S4 agieren. Erst bei Konflikten zwischen S3 und S4 entscheiden die Führungskräfte in S5-Funktion auf Grundlage der getroffenen normativen Regeln. Wichtig ist hierbei der Unterschied zwischen funktionaler Sicht und klassischer Organisations-Perspektive: die Systeme S1 bis S5 sind Funktionen in einer Organisation und keine Abteilungen oder Bereiche. Somit muss geklärt werden, welche Rollen jeweils welche Aufgaben übernehmen und verantworten, um damit eine Systemfunktion zu erfüllen.

Fehlerkultur etablieren und Mitarbeiterpotenziale entwickeln

Eine lebensfähige (funktionierende) Organisation setzt allerdings voraus, dass auch die Unternehmenskultur darauf ausgerichtet ist und sich die Mindsets aller weiterentwickeln. Das Management muss zudem an die Strukturen und Prozesse angepasst und eine Feedbackkultur etabliert werden, in der sowohl horizontal als auch vertikale Feedbackprozesse in beide Richtungen gelebt werden.

Denn Mitarbeiter und Führungskräfte, die Aufgaben aus den Systemen S1 bis S4 wahrnehmen, arbeiten in VSM-Organisationen, die ständig auf neue Kunden- und Marktanforderungen reagieren und diese idealerweise antizipieren, in wechselnden Arbeitszusammenhängen. Sie entwickeln neue Produkte und Dienstleistungen in agilen Projektgruppen und übernehmen je nach Anforderungen auch jeweils unterschiedliche Rollen, und tragen damit also zu unterschiedlichen Systemfunktionen bei. Verantwortlichkeiten werden in solchen Gruppen ausgehandelt und vergeben.

Da sich in solch agilen Strukturen die Rolle von Führungskräften stark wandeln und Mitarbeitenden meist weit mehr als nur einen „Chef“ haben, ist es notwendig, dass Menschen Feedback aus allen Richtungen bekommen und geben. Eine Feedbackkultur, in der Rückmeldung zeitnah, ehrlich und konkret erfolgt, fördert Leistung und Motivation. Auch das Leistungsmanagement muss dafür agiler werden. An die Stelle von rückwärtsgewandten Mitarbeitergesprächen treten Performance Previews, bei denen Fach- und Führungskräfte auf Grundlage gemachter Erfahrungen beschreiben, wie sie sich künftig einbringen können und was sie für ihre persönliche Entwicklung brauchen. Dafür wiederum sind Führungskräfte notwendig, die ihren Kollegen viel Eigenverantwortung, Autonomie und Selbstverantwortung zumuten, um die zukünftig benötigten individuellen und kollektiven Fähigkeiten zu entwickeln.

Es gilt einen kollektiven Growth Mindset zu entwickeln, in dem jeder aus Fehlern lernt und diese Lernkurve als Entwicklung und Change begreift. Die Unternehmenskultur wird um eine Fehlerkultur bereichert, in der jeder einzelne aber auch Projektgruppen neue Verfahren, Methoden, Produkte und Dienstleistungen ausprobieren dürfen, um daraus zu lernen. Dafür brauchen sie Raum und Zeit und müssen ehrlich darüber sprechen, was gut gelingt, und wo sie noch scheitern.

Allerdings lassen sich die Bereitschaft zur Offenheit und die Fähigkeit, sich immer wieder auf neue Transformationsprozesse einzustellen, nicht anordnen. Menschen haben häufig innere Widerstände, sich auf Veränderungen einzulassen. Sie bilden Blockaden gegen Transformationsprozesse, weil diese sie aus ihrer Komfortzone holen. Daher brauchen viele Mitarbeiter Führungskräfte, die ihnen als Begleiter und Coach zur Seite stehen, damit sie ihre eigenen Beschränkungen erkennen und lernen, wie sie diese überwinden.

Time to Market als Messlatte für die Überlebensfähigkeit der Organisation

Den Menschen kommt also eine Schlüsselrolle zu, ob und wie weit sie in einer funktionalen, agilen Organisation zurechtkommen. Zentral ist, dass sich alle Systemebenen vollständig auf ihre Kunden ausrichten, um schneller auf Disruptionen reagieren und neue Produkte auf den Markt bringen zu können. Time to Market wird dann zur Messlatte, ob eine Organisation wachsen kann oder untergehen muss. Wer seine Organisation agiler aufstellt, wird sich nicht immer neu organisieren müssen, ganz gleich, welche Bedrohungen die VUKA-Welt bereithält. Weil agile Organisationen den permanenten Wandel von Märkten, Kundenbedürfnissen und Technologien förmlich in ihre DNA internalisiert haben, werden sie resilienter, also im permanenten Wandel und Wettbewerb widerstandsfähiger.

Checkliste: 12 Symptome dysfunktionaler Organisationen

In jedem Unternehmen gibt es Reibungsverluste. Wie bei allen sozialen Systemen laufen manche Prozesse wie geschmiert, bei anderen hakt und knirscht es. In der Checkliste finden Sie zwölf Symptome, woran Sie eine schwache Organisation erkennen. Wenn sechs davon in ihrer Organisation vorkommen, sollten Sie handeln.

  1. Zwischen Teilsystemen (beispielsweise Marketing und Vertrieb) herrscht Konkurrenz, die zu Doppelarbeit und Ineffizienz führt.
  2. Ungleiche Macht- und Ressourcenverteilung der Teilsysteme.
  3. Operative Teilsysteme warten lange auf überfällige Entscheidungen und verpassen Marktchancen.
  4. Keine oder wenige gemeinsame Werte und Standards.
  5. Jeder macht, was er will.
  6. Chaos zwischen Teilsystemen durch unklare Zielvorgaben.
  7. Zwischen Ihren Teilsystemen besteht ein hoher Koordinierungsbedarf.
  8. Bestimmte Konflikte und Probleme stehen immer wieder auf der Tagesordnung und werden nicht gelöst.
  9. Erste und zweite Managementebenen verfügen über keine Informationen aus erster Hand.
  10. Entscheidungen werden getroffen, ohne das ganze Bild zu kennen.
  11. Lange Entwicklungs- und Entscheidungszeit, bis Innovationen auf den Markt kommen.
  12. Die Organisation wird immer wieder von der Zukunft überrascht durch unerwartete Kunden-, Wettbewerbs- oder Marktentwicklungen.

Michael Schwarz ist CEO und Experte für Organisations- und Führungskräfteentwicklung bei der step 5 AG, Zürich.

Step 5 AG

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