Entwicklung barrierefreier Apps Mobil drauf statt Hürdenlauf
27. August 2017Von Audiodeskription über Brailleschrift bis Rollstuhl-Rampe – in unserer öffentlichen Infrastruktur und in der Medienwelt ist das Thema Barrierefreiheit inzwischen fest verankert. Viele Maßnahmen und Installationen sind aus dem Alltag von Menschen mit einer Seh-/Hörbehinderung oder einer motorischen Einschränkung nicht wegzudenken. Doch wie steht es mit dem Bereich App-Entwicklung?
Bedarf besteht
In unserer zunehmend digitalisierten Gesellschaft fast jeder Smartphone, Tablet und Co. – und etwa 15 Prozent davon haben eine amtlich anerkannte Behinderung. Darüber hinaus leiden circa 10 Prozent der Bevölkerung unter Farbschwäche und der Anteil der sogenannten Best Ager steigt: Bereits 52 Prozent der Deutschen sind über 45 Jahre alt, das Alter, in dem die Altersweitsichtigkeit langsam einsetzt und die Feinmotorik nachlässt. Sie alle würden von einer barrierefreien App-Entwicklung profitieren.
Experten sehen hier vor allem bei Unternehmen noch Handlungsbedarf und auch auf Entwicklerseite rückt das Thema eher zaghaft in den Fokus. „Es ist mein Wunsch, dass App-Entwickler noch stärker auf Barrierefreiheit achten“, unterstreicht auch die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Verena Bentele. Der Software-Anbieter mobivention folgt diesem Wunsch und treibt die Entwicklung barrierefreier Android- und iOS-Apps auch abseits des eigenen Portfolios weiter voran – unter anderem im Rahmen eines gemeinsamen Projekts mit dem „Institut der deutschen Wirtschaft Köln e.V.“.
Ein wichtiger Schritt in Richtung Standardisierung der Barrierefreiheit bei Apps erfolgte Ende 2016 mit Inkrafttreten der EU-Richtlinie über den barrierefreien Zugang zu Websites und Apps öffentlicher Stellen, beispielweise Verwaltungen, Krankenhäuser oder Universitäten. „Für uns ist Barrierefreiheit ein selbstverständliches Kriterium bei der Ausschreibung und Umsetzung unserer Apps, sowie aller anderen Services“, sagt Petra Winkelmann, Projektleiterin von REHADAT, dem zentralen Informationsangebot zur beruflichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Institut der deutschen Wirtschaft Köln.
Design für alle
Diese Entwicklung ist ganz im Sinne des integrativen Konzepts „Universelles Design“ (europäisch: „Design für alle“), bei dem es darum geht, digitale Angebote für möglichst viele Menschen zugänglich zu machen. Und dies weitestgehend ohne Zusatztechnik oder Anpassung und kompatibel mit sämtlicher Unterstützungstechnologie.
Es geht dabei also nicht um Apps, die speziell für Nutzer mit Einschränkungen entwickelt werden, sondern um nicht weniger als alle verfügbaren Apps – sowohl im beruflichen als auch im privaten Kontext. Die Prinzipien des „Universellen Designs“ reichen von der einfachen, intuitiven Benutzung über einen niedrigen körperlichen Aufwand bis hin zu einer gewissen Fehlertoleranz bei unbeabsichtigten Aktionen. Wie aber sieht die App-Barrierefreiheit konkret aus und was muss bei der App-Entwicklung beachtet werden?
Je mehr sich das Leben vieler Menschen auch im Internet und auf dem Smartphone abspielt, desto mehr müssen sich App-Entwickler mit Herausforderungen beschäftigen, die vielleicht nicht sofort zu erkennen sind. Im App-Bereich bezieht sich Barrierefreiheit nämlich nicht nur auf die Überwindung physikalischer Hindernisse. Hier gilt es auch abstraktere Aspekte zu berücksichtigen, schließlich geht es um die uneingeschränkte Zugänglichkeit und Nutzbarkeit von digitalen Inhalten und Diensten.
Die Barrierefreiheit bei Apps beginnt mit simplen Dingen wie dem Vorlesen von integrierten Texten oder dem klaren Beschreiben und Erklären von Bildinhalten. Es erfordert aber beispielsweise auch die Einbindung von plattformspezifischen Hilfsmitteln wie UIAccessibility im Bereich iOS. UIAccessibility bietet Werkzeuge, mit denen beeinträchtigte Nutzer alle Funktionen einer App dank einer speziell für sie aufbereiteten Benutzeroberfläche eigenständig nutzen können. So erleichtert eine komplexere Gestensteuerung in Kombination mit dem Hinterlegen von diversen, leicht auslesbaren Metadaten beispielweise die App-Nutzung für Menschen mit einer Sehbehinderung. Bei der Umsetzung von barrierefreien Apps gilt außerdem zu beachten: Elemente sollten stets so einfach wie möglich strukturiert sein. Die präziseste Voice-Over-Funktion hilft nichts, wenn die Elemente innerhalb einer App unstrukturiert und überladen sind.
Bei der Entwicklung barrierefreier Apps müssen sich die Entwickler im optimalen Fall in die Rolle der Nutzer mit Handicap einfühlen und aus ihrer Perspektive heraus handeln. Es empfiehlt sich deshalb, von Beginn an eingeschränkte Nutzer an der Entwicklung der Software teilhaben und die App im Vorfeld testen zu lassen. Nur so können deren Bedürfnisse umfassend berücksichtigt werden. Das fängt zum Beispiel schon bei der Farbwahl an, damit auch Menschen mit Farberkennungsschwäche Hervorhebungen sehen können. Auch die Größe von Icons und Schriften ist ein wesentlicher Faktor bei der Gestaltung, ebenso die Strichstärke. Außerdem sollte auf eine einfache und intuitive Benutzung, angemessene Kontraste sowie sensorisch wahrnehmbare Informationen geachtet werden. Auch sollten die Apps Rechts- und Linkshändigkeit unterstützen. Wenn man einmal anfängt, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, fallen einem auf einmal ganz viele relevante Punkte ein. Grundsätzlich lassen sich bereits bestehende Apps in Richtung Barrierefreiheit umrüsten, aber der Aufwand ist in der Regel sehr groß. Einfacher und effizienter ist es da zumeist, ein Produkt von Anfang an barrierefrei zu konzeptionieren und umzusetzen.
Bei der Entwicklung barrierefreier Apps unterscheiden sich die technischen Möglichkeiten von Betriebssystem zu Betriebssystem. Während Android beispielsweise auf eine kontextsensitive Steuerung setzt, die über Gesten erreicht werden kann, setzt iOS auf eine Grundstruktur aus Flags und Überschriften, um so schnellstmöglich den gewünschten Punkt innerhalb eines Screens zu erreichen. Die Erfahrung zeigt, dass Android Talkback bei weitem nicht so ausgereift erscheint wie das iOS-Pendant mit Voice Over. Trotzdem lassen sich mit diesen Features Apps barrierefrei bedienen und unterstützen Nutzer, die auf diese Hilfe angewiesen sind.
Angesichts der regen theoretischen Diskussion und der zunehmenden gesellschaftlichen Bedeutung bekommt das Thema „barrierefreie Apps“ Rückenwind. Man kann auch sagen, dass öffentliche Einrichtungen dabei eine Vorreiterrolle übernehmen. Unternehmen zögern oft noch, all ihre Unternehmens-Apps barrierefrei umzusetzen beziehungsweise entsprechend umzurüsten, und scheuen den damit verbundenen Mehraufwand. Diesen sollten Unternehmen jedoch als Chance und Herausforderung begreifen und nicht als Hindernis.
Gerade daraus entsteht ein wichtiges und durchaus emotionales Argument für barrierefreie Unternehmens-Apps. Denn: Damit kann sich eine Marke oder ein Unternehmen klar positionieren und ermöglicht es einem großen Teil unserer Gesellschaft, gleichberechtigt teil zu haben. Gerade mit Blick auf eine älter werdende Gesellschaft und den ungebrochenen Trend zur Digitalisierung aller Lebensbereiche ist eine Investition in Barrierefreiheit über kurz oder lang unverzichtbar, um im Wettbewerb zu bestehen.
Wer seine eigenen Apps auf ihre Barrierefreiheit hin testen möchte, kann dies im ersten Schritt beispielsweise im Fall von Android Apps per Accessibility Scanner tun. Der nächste Schritt sollte dann zum professionellen Entwickler führen, der alle Ansprüche an barrierefreie Apps kennt und die beste Strategie identifizieren kann, um in Sachen mobile Anwendungen alle mit ins Boot zu holen.
Checkliste barrierefreie Apps
Von Anfang an Barrierefreiheit thematisieren: Bereits zu Beginn eines App-Projektes sollte eine bewusste Entscheidung getroffen werden, wie tiefgehend die Barrierefreiheit erforderlich ist und berücksichtigt werden soll. Bereits vom ersten Layout an sollte barrierefrei entwickelt werden.
OS-spezifische Vorteile kennen und nutzen: Informieren Sie sich im Vorfeld darüber, welche Werkzeuge eine Plattform zur Verfügung stellt, um effizient planen und entwickeln zu können.
Benutzerführung an individuelle Beeinträchtigungen anpassen: Behalten Sie stets im Blick, welche Informationen Sie dem Nutzer zur Verfügung stellen müssen, um ihm einen möglichst übersichtlichen Weg durch die App zu bereiten. Hier ist zum Beispiel auch wichtig, in welcher Reihenfolge Elemente vorgelesen und auswählbar gemacht werden. Hat der Nutzer alle Informationen erhalten, welche er zu seiner Entscheidung benötigt? Weiß der Nutzer, wo er sich innerhalb der App befindet und welche Möglichkeiten ihm zur Verfügung stehen?
Mögliche Veränderungen durch Werkzeuge der Barrierefreiheit bedenken: Einem durch Behinderungen eingeschränkten Nutzer stehen andere Werkzeuge zur Verfügung als einem Standardnutzer. Diese Tools können dazu führen, dass OS-Callbacks sich anders verhalten oder versteckte Schaltflächen sichtbar werden. Diese Abweichungen gilt es zu prüfen und zu berücksichtigen.
Beeinträchtigte Nutzer als Tester: Kein noch so ausgeklügelter Testaufbau schafft es, die Sicht eines beeinträchtigten Nutzers zu simulieren. Deshalb nehmen Sie einen Tester aus der jeweiligen Zielgruppe hinzu. Die Perspektive dieser Nutzer ist im Testing unbezahlbar, um die Qualität der Implementierung zu gewährleisten.
Ressourcen effizient bündeln: Es wird immer Features geben, welche extrem schwer oder gar unmöglich in einer barrierefreien Variante umzusetzen sind. Statt sich dabei festzufahren, zögern Sie nicht, diese Features zu vereinfachen oder sogar komplett für einige Nutzer wegzulassen. Konzentrieren Sie sich lieber darauf, auch beeinträchtigten Nutzern eine durchgehend hochqualitative Software zu präsentieren. (rhh)
Dr. Hubert Weid
ist Geschäftsführer bei mobivention.