Online-Handel: Intelligenz im Umgang mit KI ist gefragtViele KI-Anwendungen sind weit entfernt von Intelligenz
30. Oktober 2025
Künstliche Intelligenz wird viel zu inflationär benutzt – auch im Online-Handel. Viele Unternehmen stellen sich die Frage, wo im Online-Handel echte Innovation durch KI möglich ist und was man dafür benötigt.
Künstliche Intelligenz (KI) ist derzeit das Schlagwort, mit dem sich nahezu jede Branche schmückt. Vom Recruiting bis zur Logistik – überall versprechen Unternehmen Effizienzsprünge und bessere Kundenerlebnisse. Schaut man jedoch genauer hin, wird oft deutlich, dass viele der sogenannten KI-Anwendungen lediglich regelbasierte Automatisierungen oder statistische Mustererkennungen sind – nützlich, aber weit entfernt von echter Intelligenz.
Auf den ersten Blick scheint KI im E-Commerce allgegenwärtig: Produktvorschläge, Analysen von Surfverhalten, Nachfrage-Prognosen und Retouren-Vermeidung – es gibt fast keinen Schritt in der Customer Journey, der nicht durch KI optimiert verschlankt oder transparenter werden soll. Dennoch ist trotz vieler Pilotprojekte der große Durchbruch bisher ausgeblieben. Denn, viele Systeme basieren auf unzureichenden Daten oder verfehlen in der Umsetzung die Erwartungen der Kunden.
KI im Online-Shopping: Chancen nutzen
Die Potenziale sind in der Tat riesig: Intelligente Empfehlungssysteme helfen, Produkte gezielter anzubieten, während Größenempfehlungen und virtuelle Anproben die Zahl der Fehlkäufe senken können. Zalando etwa setzt auf KI-Modelle aus Zürich, die mithilfe von Körperdaten passgenaue Größen vorschlagen sollen. Auch in der Logistik wird KI bereits eingesetzt, um Retouren-Ströme effizienter zu planen und CO₂-Emissionen zu reduzieren.
Im Kern geht es stets darum, Prozesse zu verbessern, um den Kunden zu gewinnen und zu behalten. Die „Customer Return Experience“ – also, wie ein Kunde den Rückgabeprozess erlebt, wird leider noch zu oft stiefmütterlich behandelt. Dabei kann gerade in diesem Abschnitt der Customer Journey KI unterstützen, indem sie Retourengründe analysiert, Kunden automatisiert durch Rückgabeprozesse führt oder mithilfe von Chatbots und einer effizienten, aber kundenzentrierten Kommunikation den Service beschleunigt. Richtig eingesetzt, spart das Kosten und verbessert die Kundenzufriedenheit – und damit mittelfristig auch den Umsatz.
Doch die Akzeptanz ist begrenzt. Eine aktuelle Umfrage von Trusted Returns zeigt, dass rund 35 Prozent der Online-Käufer unschlüssig sind oder KI-Tools beim Shopping als nicht hilfreich empfinden. Viele Kunden fühlen sich von automatisierten Prozessen überfordert oder misstrauen Entscheidungen, die sie nicht nachvollziehen können. Die menschliche Beratung bleibt – gerade bei hochpreisigen oder emotionalen Produkten – daher unverzichtbar.
Menschen bleiben unersetzlich
KI kann demnach Prozesse beschleunigen, aber sie ersetzt den Menschen nicht. Die Frage ist jedoch, ob Menschen überhaupt bereit sind, KI als echten Problemlöser zu akzeptieren – insbesondere in Bereichen, in denen Vertrauen und persönliche Interaktion zählen. Viele Kundinnen und Kunden möchten lieber mit Menschen kommunizieren, die sie verstehen, als mit anonymen Systemen. Ihr fehlt das, was in der Kundenbeziehung entscheidend ist – emotionale Intelligenz, Empathie und situatives Fingerspitzengefühl.
Zudem ist die Datenbasis oft zu schwach oder zu eingeschränkt, um fundierte Entscheidungen zu treffen. Besonders im Retourenmanagement, wo Ursachen für das Auslösen des Retouren-Prozesses vielfältig sind – von Passformproblemen über falsche Erwartungen bis hin zu impulsivem Konsum –, liefern die Systeme häufig nur Teilantworten. Eine KI kann zwar Muster erkennen, aber sie versteht nicht, warum Kunden retournieren. Statt den Menschen zu ersetzen, sollte KI ihn daher gezielt unterstützen – etwa indem sie Routineaufgaben übernimmt, Mitarbeitende entlastet und ihnen ermöglicht, sich stärker auf die emotionale und empathische Kundeninteraktion zu konzentrieren.
Ein weiteres Problem: Der Hype um „künstliche Intelligenz“ verdrängt häufig pragmatische Lösungen. Viele Händler haben bislang nicht einmal einfache regelbasierte Automatisierungen etabliert – etwa für die Klassifizierung von Retourengründen oder die Priorisierung im Kundenservice. Dabei wären diese Systeme oft transparenter, leichter steuerbar und für den Kunden nachvollziehbarer.
Auch das Thema Datenschutz ist kritisch zu sehen. Personalisierung setzt auf umfangreiche Datenerhebung – ein Balanceakt zwischen Komfort und Kontrolle. Wer zu viel wissen will, riskiert das Vertrauen seiner Kundschaft.
„Künstliche-Intelligenz-Intelligenz“
KI ist ein mächtiges Werkzeug – aber derzeit kein Allheilmittel. Richtig eingesetzt, kann sie Entscheidungsprozesse unterstützen, Retouren reduzieren und die Customer Experience verbessern. Doch sie sollte nicht als Ersatz für menschliche Expertise und Soft Skills verstanden werden, sondern als Ergänzung. Was benötigt wird ist eine KII: die Intelligenz mit Künstlicher Intelligenz sinnvoll zu agieren.
Der Online-Handel steht damit an einem Scheideweg: Wer KI strategisch und verantwortungsvoll einsetzt, kann echte Wettbewerbsvorteile erzielen. Wer dagegen blind jedem Trend folgt, riskiert teure Fehlinvestitionen und enttäuschte Kunden.
Am Ende bleibt eine einfache Wahrheit: Nicht jede Lösung braucht Künstliche Intelligenz – manchmal reicht schon ein klarer Prozess. Der wahre Fortschritt liegt darin, Technologie mit menschlichem Verständnis zu verbinden. Denn das ist es, was Kunden wirklich überzeugt – nicht die KI, sondern die Intelligenz im Umgang mit ihr.
Artjom Bruch ist CEO von Trusted Returns.